Jürgen Einwanger | Österreichischer Alpenverein
Es war einmal ein Land, in dem die Menschen sich frei bewegen, sich bewähren und ausprobieren konnten. Sie hatten viel Freiraum, sie durften Eigenverantwortung übernehmen und sie durften auch einmal an einer Aufgabe scheitern. Denn zu jener Zeit glaubte man, dass Fehler wertvolle Lernhilfen seien. Kinder und Jugendliche waren oft unbeaufsichtigt. Sie konnten soziales Miteinander und eigene Kompetenzen entwickeln, ohne dabei sofort kontrolliert und korrigiert zu werden – und auch bei den Erwachsenen gab es Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung. Die Menschen in diesem Land waren sehr glücklich und es gab zu jener Zeit einen König, dem die Zufriedenheit seines Volkes sehr am Herzen lag.
Eines Tages veränderten sich die Menschen. Sie bekamen Angst. Angst vor Verletzung, Angst vor dem Schuldsein, Angst vor allem Möglichen und Unmöglichen.
So kam es, dass eines Tages alle nur mehr aufpassten, dass ja nichts passierte und niemand ein Risiko einginge. Und falls doch, musste jemand Schuld sein. Manche vermuteten, dass es die Versicherungsvertreter von Burg „Verdiensoviel“ oder die Juristen aus „Habimmerrecht“ waren, die alle mit dieser Angst vergiftet hatten. Andere behaupteten, es seien die Individualisierer von der Insel „Ichbinich“, die an allem Schuld seien – wieder andere glaubten, es sei ein böser Spuk, der bald vorbei sein müsste, da ihnen so ein ängstliches Leben nicht gerade lebenswert erschien. Doch die Angst blieb und die Menschen verlernten, auf sich und auf andere zu achten. Niemand riskierte mehr etwas. Schließlich gab es nur mehr wenige, die stellvertretend für alle anderen die verrücktesten Sachen machten und auf irrwitzigste Ideen kamen, um Aufsehen zu erregen. Viele von ihnen kamen aus dem „Holly-wood“. Sie wurden sehr bewundert, lief doch allen anderen ein wohltuender Schauer, der an vergangenen Zeiten erinnerte, über ihren Rücken, wenn sie von deren Taten erfuhren. Und was das Wichtigste war – sie mussten sich, um diesen schönen Schauer zu erleben, nicht einmal mehr selbst dem Wagnis aussetzen.
Als der König die Veränderung in seinem Volk bemerkte, beauftragte er seine besten Berater und Alchimisten herauszufinden, wie man mit der Situation umgehen sollte. Die einen forderten klare Regeln und Verbote. Damit diese Regeln auch eingehalten würden, waren sie für harte Strafen. Andere waren dafür, die Kinder und Jugendlichen, die plötzlich als das eigentliche Problem gesehen wurden, ganztags zu betreuen. Mit speziellen Programmen sollten die Kinder wieder soziale Kompetenz und Eigenverantwortung lernen. Einige geschäftstüchtige Berater rieten dem König, die Jugendlichen nur in die von ihnen angebotenen „Camps“ zu schicken – das wäre das Einzige, was nun noch helfen könnte. Weil es so wichtig geworden war, dass niemandem etwas geschieht, wurde der Dschungel an Vorschriften so undurchdringlich, dass bald niemand mehr wusste, was richtig und wichtig war. Die Angst wuchs weiter, „Null Unfall“ wurde zum neuen Volksslogan!
Diese Gesetze wurden zum Schutz der Bevölkerung erlassen, wobei niemand mehr wusste, vor wem die Bürger eigentlich geschützt werden sollten... Manche sagten „Vor sich selbst“. Um aber wenigstens für die Jugendlichen noch Möglichkeiten zu bieten wurden spezielle pädagogische Erlebnisprogramme entwickelt, bei denen sie „Kooperation“ üben und ihren Mut unter Beweis stellen konnten - natürlich alles abgesichert. Doch die Jugendlichen lernten nur wenig. Die Erlebnisprogramme waren genau so abgesteckt, wie die Vorschriften und Gesetze es verlangten, eben das nichts passieren konnte…
Wer hätte denn sonst die Verantwortung übernommen? Und so blieben auch falsche Entscheidungen ohne echte Konsequenzen, da ja nichts passieren durfte. Aber das machte nichts. Niemand mehr brauchte Eigenschaften wie Zivilcourage, Eigenverantwortung und Selbständigkeit. Die Berater waren zufrieden. Und alle Jahre trafen sie sich zu großen Kongressen und klopften sich auf ihre Schultern – hatten sie das Problem doch gelöst – und auch der König war zufrieden, denn sein Volk war leichter regierbar als jemals zuvor... (als es noch wirklich glücklich war).
Nur einige Wenige erinnerten sich an die Zeit vor all diesen zügelnden Gesetzen und Regeln.
Diese zogen sich in die Wälder zurück und lebten dort als „Freie Vögel“. Sie riefen zum Ungehorsam gegenüber den immer strenger werdenden Geboten auf. Sie erkannten, dass niemand mehr selbstverantwortlich würde leben können, wenn es so weiterginge und, dass das für das gesamte Volk den Untergang bedeuten würde. Denn wenn niemand mehr eigene Entscheidungen treffen und zu den Konsequenzen würde stehen können, dann würde auch nichts mehr geschehen und wenn nichts mehr geschieht, bleibt alles wie es war und wenn alles bleibt, wie es war, entwickelt sich nichts mehr weiter und wenn sich nichts mehr weiter entwickelt, dann gibt es keine Zukunft mehr...
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann machen sie auch heute noch Gesetze und verbieten sich gegenseitig das, was sie ohnehin nicht mehr kennen. Und hoffen weiter auf eine Veränderung von außen, denn sie selbst wissen nicht mehr, wie Veränderung geht. Es bleibt natürlich auch die Hoffnung, dass die „Freien Vögel“ die anderen über- zeugen können, dass es Risiko braucht und Eigenverantwortung, um im Leben wirklich Spaß und Sinn zu finden. Denn Lebensqualität und Zufriedenheit hängen nicht zuletzt von Selbstbestimmung, Autonomie und Ressourcen ab!
Bleiben da nur die Fragen, wer dieser König war und was für ein Königreich das gewesen ist?