Eine “Daumenregel” ist: je mehr Verantwortung ein Kind / ein Jugendlicher für sich selbst übernehmen kann,
desto weniger Verantwortung müssen die aufsichtspflichtigen Personen tragen!
Aufsichtspflicht heißt nicht Überwachung auf Schritt und Tritt!
Ob eine Aufsichtspflichtverletzung vorliegt oder nicht, ist im Einzelfall durch das Gericht zu entscheiden. Auch wenn die Aufsichtspflicht erst mit der Volljährigkeit endet, ist das konkrete Maß von mehreren Faktoren abhängig: Entscheidend sind neben Alter, Entwicklung, den Eigenarten und dem bisherigen Verhalten des Kindes / Jugendlichen sowie dem Ausmaß der situationsbezogenen vorhersehbaren Gefahren auch die Lebensumstände des Aufsichtspflichtigen, auch seine wirtschaftliche Lage und seine Belastung durch Geschäfts- oder Berufspflichten und anderer Verpflichtungen (etwa die Betreuung weiterer Kinder).
Lehrling | Aufsichtspflicht Kreissäge
OGH vom 09.04.1981, 8 Ob 68/81
Der Lehrlingsausbildner hat seinem 16-jährigen Lehrling verboten, an einer Kreissäge zu arbeiten. In einem unbeobachteten Moment nimmt der Lehrling die Kreissäge trotzdem in Betrieb, da er sich dadurch eine Arbeitserleichterung erhofft. Auch wenn der Lehrling die Kreissäge in einem unbeaufsichtigten Moment in Betrieb nimmt, kann die Verletzung nicht dem Ausbildner angelastet werden. Es liegt keine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht vor.
Lehrling | Dachdecker
OGH vom 30.09.2005, 9 ObA 78/05v
Ein Lehrling im ersten Lehrjahr arbeitete auf einer Baustelle im Inneren des Dachbodens. Sein Ausbildner befand sich am Dach. Der Lehrling ging unaufgefordert auf das Dach und stürzte ab. Vom OGH wurde festgestellt, dass es im Dachbodeninneren keiner Schutzeinrichtungen und keiner besonderen Beaufsichtigung bedarf. Auch wenn der Ausbildner dem Lehrling nicht explizit untersagt hat, auf das Dach zu steigen, reicht das für die Annahme grober Fahrlässigkeit nicht aus. Aus dieser Entscheidung ergibt sich, dass eine besondere Aufsicht nur bei entsprechender gesetzlicher Verpflichtung (KJBG, K JBG-VO) zwingend notwendig ist. Es ist aber jedenfalls nicht gefordert, den Lehrling in jeder Minute genau zu kontrollieren.
Lehrling | Kreissäge
OGH vom 26.11.1964, 2 Ob 331/64
Ein Tischlermeister, der seinen 15-jährigen Lehrling an einer Kreissäge ohne die vorgeschriebenen Schutzvorrichtungen und ohne jede Belehrung einsetzt, handelt grob fahrlässig. In dieser Entscheidung gibt es mehrere Dinge, die dem Dienstgeber vorzuwerfen sind:
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Die Kreissäge entsprach nicht den gesetzlichen Bestimmungen
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Der Dienstgeber hat seinen Lehrling überhaupt nicht belehrt oder unterwiesen
Daher erscheint die Beurteilung als grob fahrlässig gerechtfertigt. Bei etwas mehr Sicherheitsbemühungen hätte die Sache bereits anders ausgehen können:
Schüler | Skiunfall
OGH 29.10.2009, 2 Ob 106/09s
Eine Schülerin verursacht auf einer blauen Piste einen Skiunfall. Es kommt immer auf das Können der Schüler und den Schwierigkeitsgrad der Piste an. Nur wenn hier ein krasses Missverhältnis besteht, könnte man dem Skilehrer Schuld geben (siehe dafür schon 4 Ob 524/92). Die - den Unfall verursachende - Schülerin hatte bereits früher einen einwöchigen Schikurs absolviert. Sie war bereits vor dem Unfall etwa 400m zu ihrer Unterkunft mit den Ski abgefahren. Die Pistenbeschaffenheit - „blaue” (leichte) Piste mit flachem Beginn, flachem und weitläufigem Auslauf und nur dazwischen einem steileren Bereich (mit bis zu 30 Grad Gefälle) - ist grundsätzlich nicht von vornherein für Anfänger ungeeignet. Im vorliegenden Fall ist daher kein Verschulden des Lehrers zu erkennen.
Schüler | Rodelunfall
29.11.2006, 7 Ob 251/06x
Rodelunfall: Zwei 14-jährige Jugendliche befanden sich in Begleitung von zwei Erziehern, die ihnen das Zeichen zum Losfahren mit ihrem Rodelgerät („Plastikschüssel”) gaben. Die „Rodelschüssel” war ein „kaum brems- und lenkbares Plastikgerät”. Die Jugendlichen seien dennoch „praktisch im Blindflug” den Berg hinabgefahren, worauf es zu einem folgenschweren Unfall gekommen ist. Laut OGH hätten die 14-jährigen Jugendlichen die Gefährlichkeit ihres Verhaltens selbst einsehen und abschätzen müssen. Den Erziehern sei daher kein Vorwurf zu machen, zumal sie nicht damit rechnen konnten, dass die Jugendlichen „praktisch im Blindflug“ den Berg hinabfuhren.
Kleinkind | Aufsichtspflicht
OGH 11.03.1999, 2 Ob 110/98k (ähnlich: OGH 15.01.2004, 2 Ob 154/02i)
Ein 3 ½ jähriges Mädchen lief unbeobachtet aus einer Werkstätte hinter einem geparkten Fahrzeug auf die Straße und hat dadurch einen Unfall verursacht. Die Rechtsprechung führt aus, dass eine “Überwachung auf Schritt und Tritt” im Allgemeinen nicht in Betracht kommt. Dies trifft nach Ansicht des OGH aber vor allem auf Kinder ab schulpflichtigem Alter zu. Bei Kleinkindern wird auch nicht ein ständiges „an der Hand führen“ verlangt, man sollte sie aber dennoch ständig im Auge behalten. .